Wien (PK) – Im Rahmen des jährlichen „Gedenktags gegen Gewalt und
Rassismus im
Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“ wurde heuer
insbesondere der Opfer der NS-Aktion „T4“ gedacht. Nach einer Lesung
aus Opferbiographien fand eine Podiumsdiskussion statt, die den bis
heute schwierigen Umgang mit dem Schicksal von Menschen mit
Behinderung während des NS-Regimes thematisiert.
Die musikalische Untermalung der Gedenkveranstaltung übernahmen
das Institut Hartheim und die Landesmusikschule Oberösterreich.
Schauspielerin Kristina Sprenger las aus Opferbiografien, die
unter dem Titel „Lebensspuren“ 2013 von Florian Schwanninger und
Irene-Zauner Leitner in einem biografische Lesebuch gesammelt wurden
und stellvertretend für alle in der NS-Euthanasieanstalt Hartheim
ermordeten Menschen stehen. Diese Biographien lassen sich oft nur
bruchstückhaft aus den spärlichen Zeugnissen und Erinnerungen, die in
ihren Herkunftsfamilien bewahrt wurden, rekonstruieren. So war Helene
Adler seit Ende der 1920er Jahre wegen diagnostizierter Schizophrenie
Patientin der Wiener Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“. Im
November 1940 wurde sie in Schloss Hartheim ermordet. Vera Pour wurde
mit der Diagnose „Jugendschizophrenie“ in der psychiatrischen Klinik
Graz-Feldhof aufgenommen. Sie wurde an einem nicht genau
feststellbaren Tag im Februar 1941 nach Hartheim deportiert.
Alexander Amman war nach einer Reihe von Nervenzusammenbrüchen in der
Heil- und Pflegeanstalt Valduna bei Rankweil untergebracht, bevor er
im März 1941 in die Landesanstalt Hartheim „verlegt“ wurde.
Podiumsdiskussion zur Bewahrung der Erinnerung an Hartheim
Eine Podiumsdiskussion thematisierte den bis heute schwierigen
Umgang mit einem besonders erschütternden Kapitel der
nationalsozialistischen Verbrechen, mit der systematischen Ermordung
von Menschen mit Behinderung und psychisch Kranken. Es werfe die
schwierige Frage auf, wozu Menschen gegenüber anderen Menschen fähig
sind, sagte Moderatorin Nadja Bernhard.
Der Historiker Florian Schwanninger ist seit 2014 Leiter des Lern
– und Gedenkorts Schloss Hartheim, wo er die Opferdatenbank in
Hartheim aufbaute. Das nationalsozialistische System habe mit
Zwangssterilisationen begonnen und seine eugenischen und
rassenhygienischen Ideen mit einer Radikalität umgesetzt, wie kein
anderes Regime, führte Schwanninger aus. Opfer seien in erster Linie
Menschen geworden, die als mit „Erbkrankheiten“ belastet galten, aber
auch viele, die aus irgendeinem anderen Grund aus dem
gesellschaftlichen Rahmen fielen. Die Ermordung von Menschen mit
Behinderungen habe mit Säuglingen und Kindern begonnen und sei auf
die Bewohner:innen von Heil- und Pflegeanstalten ausgedehnt worden.
Marianne Schulze ist die Urenkelin von Adolf Böhm, Unternehmer
und Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde. Nachdem er
von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann unter massiven Druck
gesetzt wurde, eine Liste mit prominenten Jüdinnen und Juden zu
erstellen, dürfte er einen Nervenzusammenbruch erlitten haben. Er
wurde mit der Diagnose „geistige Umnachtung“ nach Hartheim deportiert
und dort ermordet. Schulze berichtete, dass Böhm Verfasser eines
Standardwerks über die zionistische Bewegung war, was vermutlich die
Aufmerksamkeit von Eichmann auf ihn lenkte. Erst in den 1990er-Jahren
konnten irrige Angaben über seine Lebensgeschichte berichtigt werden.
Schulze sagte, das Bewusstsein über psychische Belastungen und
Notlagen sei erst langsam gewachsen. Hier sei noch vieles zu tun,
damit Menschen mit Behinderungen voll in die Gesellschaft integriert
werden können. Auch in der Gesetzgebung seien dazu noch „große
Felsbrocken, nicht nur Kieselsteine“ zu verschieben.
Johann Andre ist der Sohn von Josef Andre, der sich bei einem
schweren Fahrradunfall eine massive Gehirnerschütterung zuzog, von
der er sich nicht mehr erholte. Nach mehreren Aufenthalten in der
Nervenklinik Gugging wurde er letztlich nach Hartheim gebracht und
dort ermordet. Die Familie sei über ein Schreiben aus Gugging
informiert worden, dass er in Hartheim an einer „Lungenentzündung“
verstorben sei. Über die tatsächlichen Umstände sei die Familie nur
informell und mündlich von regimekritischen Personen informiert
worden, berichtete Andre.
Welche Bedeutung der Ort für die vielen Nachfahren der Opfer hat,
zeige auch das Beispiel von Lucia Bellolo, sagte Moderatorin
Bernhard. Ihr Vater wurde nach Aufenthalten in Gugging nach Hartheim
gebracht und dort ermordet. In einer kurzen Videoeinspielung sprach
Bellolo über die Bedeutung von Hartheim als persönlichen
Erinnerungsort.
Wolfgang Schuhmann ist der Sohn von Karl Schuhmann. Sein Vater
hatte direkt neben dem Schloss Hartheim gewohnt und wurde
Widerstandskämpfer. Karl Schuhmann habe von Kindheit ein gutes
Verhältnis zu den Bewohner:innen des Schlosses gehabt. Aufgrund der
Nähe habe man die Vorgänge des Umbaus des Schlosses zur Mordanstalt
direkt mitverfolgen können. Auch das Eintreffen von Bussen und das
wenige Stunden später folgende Aufsteigen von dichtem schwarzen Rauch
sei unübersehbar gewesen. Ein Foto, das Karl Schuhmann davon
angefertigt habe, sei eines der wenigen Bilddokumente des Geschehens.
Karls älterer Bruder Ignaz sei wegen der Teilnahme an einer
Widerstandsgruppe zum Tode verurteilt worden, er selbst zu einer
Gefängnisstrafe. Er habe lange nicht über die Ereignisse gesprochen,
aber in den letzten Lebensjahren zur Aufarbeitung der Geschichte des
Ortes beigetragen. Die Rehabilitierung der vier Mitglieder seiner
Widerstandsgruppe habe er leider nicht mehr erlebt.
Bewahrung der Erinnerung als bleibende Aufgabe
Nachdem es immer weniger Zeitzeugen gebe, die über das Geschehene
berichten können, würden auch archäologische Funde an Bedeutung
gewinnen, berichtete Schwanninger. In den Jahren 2001 und 2002 seien
bei Grabungen Baureste der Tötungsanlagen, aber auch viele
verscharrte Objekte von Opfern gefunden worden. Später habe man auch
menschliche Überreste in Aschengruben festgestellt. Die Fundstücke
seien oft kleine Gegenstände, die die Menschen noch mit sich nehmen
konnten, als man ihnen erzählte, dass sie in ein anderes, „besseres“
Heim verlegt würden. Viele der Objekte hätten zweifellos einst sehr
persönlichen Erinnerungswert für ihre Besitzer:innen gehabt. Nur
wenige ließen sich heute einer bestimmten Person zuordnen.
Mit einer Ausstellung über den Umgang mit Menschen mit
Behinderung versuche die Gedenkstätte Schloss Hartheim auch, einen
Bogen in die Gegenwart zu spannen, führte Schwanninger aus. Die
Frage, wie mit Menschen umgegangen werde, die gesellschaftliche
Normen und Erwartungen nicht erfüllen, bleibe aktuell. Die
Gedenkstätte widme sich daher auch Themen nach 1945, Fragen der
medizinischen Ethik, der Sozialpolitik und des Umgangs mit Menschen
mit Behinderung. Diese Auseinandersetzung sei kein Selbstzweck,
sondern auch wichtig für die Gegenwart.
Was die Qualität der aktuellen Erinnerungskultur betreffe, so
wolle sie trotz aller Probleme nicht von einem „Scheitern“ sprechen,
sagte Schulze. Dass es möglich sei, in einem geschützten Rahmen
gedenken zu können und einen Erinnerungsort zu haben, wertete sie aus
Sicht der Nachfahren der Opfer als wichtigen Schritt. Zweifellos
bleibe noch viel zu tun, um der Aussage „Nie wieder!“ Bedeutung zu
geben. Das bedeute auch, das Bewusstsein für die Errungenschaft der
Demokratie immer konsequent gegen Gewalt und gegen die Entwertung
anderer Menschen aufzutreten. Die Erinnerung an die Vergangenheit sei
in Österreich oft sehr parteipolitisch geprägt, und es gebe oft wenig
Gemeinsames, meinte Schulze. Sie würde sich wünschen, dass man zu
einem viel faktischeren Umgang mit der Vergangenheit finde.
Schuhmann sagte, aus Sicht seiner Erfahrung in der Bildungsarbeit
sehe er die vordringliche Aufgabe der Erinnerungskultur in der
Information der Jugend. Er würde sich wünschen, dass es „mehr
Widerstandskämpfer gegen das Vergessen, gegen die Verharmlosung und
gegen die Uminterpretation von belasteten Begriffen“ gebe. Das gelte
es, den Jugendlichen mitzugeben. Damals wie heute sei das genaue
Hinschauen und Hinhören wichtig, um die kritische Urteilskraft zu
stärken.
Eder-Gitschthaler: Das Wissen um die Schrecken der Vergangenheit
muss an die Jugend weitergegeben werden
Schloss Hartheim erinnere uns eindringlich daran, wohin
Ausgrenzung, Menschenverachtung und Entmenschlichung führen können
und wie dünn die Schicht der Zivilisation sei, wenn Menschenwürde und
Mitmenschlichkeit verloren gingen, betonte Bundesratspräsidentin
Andrea Eder-Gitschthaler in ihren Abschlussworten. Auch wenn die
Stimmen der Überlebenden immer leiser werden, dürfen die Erinnerungen
nicht verstummen, mahnte sie. Gerade junge Menschen müssten Zugang
dazu haben, denn es sei ihre Zukunft, die auf dem Fundament der
Geschichte gebaut werde.
Das österreichische Parlament bekenne sich nicht nur symbolisch
zur Inklusion und den Menschenrechten, betonte Eder-Gitschthaler. Das
barrierefreie Parlamentsgebäude sei Ausdruck davon, dass Demokratie
alle brauche, und zwar wirklich alle. Doch Demokratie sei mehr als
Gebäude und Gesetze. Es sei unsere Pflicht, so die
Bunderatspräsidentin, das Wissen um die Schrecken der Vergangenheit
an die Jugend weiterzugeben. Es sollte vermittelt werden, dass
Konflikte friedlich gelöst, Unterschiede respektiert und die Würde
jedes Menschen geachtet werden müssen. Da der Umgang miteinander das
Bild des Zusammenlebens für kommende Generationen präge, „müssen wir
unsere Worte und Taten von Respekt, Empathie und Verantwortung
leiten“ lassen. Möge das heutige gemeinsame Erinnern ein Versprechen
sein: „Dass wir die Würde jedes einzelnen Menschen achten, dass wir
wachsam bleiben gegenüber jeder Form von Ausgrenzung, und dass wir
für den Frieden arbeiten – nicht nur in großen Worten, sondern im
Kleinen, im täglichen Miteinander“. (Schluss Gedenkveranstaltung)
sue/sox
HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung sowie eine Nachschau auf
vergangene Veranstaltungen finden Sie im Webportal des Parlaments .