Eine neue Ausstellung in der Wienbibliothek im Rathaus zieht derzeit alle Blicke auf sich. Unter dem Titel „Wien und die Wissenschaftliche Weltauffassung. Orte des Wiener Kreises“ wird die revolutionäre Bewegung des Wiener Kreises beleuchtet, die in den 1920er und 1930er Jahren die intellektuelle Landschaft Wiens maßgeblich prägte. Aber was verbirgt sich hinter diesem geheimnisvollen Kreis, und warum ist er heute noch so bedeutend?
Der Wiener Kreis: Eine Einführung
Der Wiener Kreis war ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Philosophen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien versammelten. Gegründet von Moritz Schlick, einem deutschen Physiker und Philosophen, strebte dieser Zirkel danach, die Philosophie durch empirische Wissenschaft zu erneuern. Ihr Ziel war es, alle wissenschaftlichen Aussagen in eine empirische oder formale Sprache zu übersetzen, um die metaphysische Philosophie zu überwinden. Dies war der Kern des sogenannten „Logischen Empirismus“.
Die Anfänge und das Manifest
Im Jahr 1929 trat der Wiener Kreis mit einem Manifest erstmals an die Öffentlichkeit. Diese Veröffentlichung markierte den formellen Beginn ihrer Bewegung und trug dazu bei, ihre Ideen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Der Kreis betonte, dass nur Aussagen, die logisch beweisbar oder durch Beobachtung überprüfbar sind, wissenschaftlich sinnvoll seien. Diese radikale Sichtweise stellte die bestehende Philosophie auf den Kopf und ebnete den Weg für eine neue Art des wissenschaftlichen Denkens.
Die Orte des Wiener Kreises in Wien
Die Ausstellung in der Wienbibliothek im Rathaus zeigt die wichtigsten Orte, an denen sich der Wiener Kreis traf und austauschte. Diese Orte sind nicht nur historisch bedeutsam, sondern auch ein Spiegelbild der kulturellen und sozialen Dynamik des „Roten Wien“.
- Universität Wien: Hier lehrten einige der Mitglieder des Wiener Kreises und trugen ihre Ideen in die akademische Welt hinaus.
- Kaffeehäuser: Diese kulturellen Treffpunkte waren ideal für den informellen Austausch von Ideen und Diskussionen.
- Volksheim Ottakring: Ein Zentrum der Erwachsenenbildung, das die Ideen des Kreises verbreitete.
- Pädagogisches Institut im Palais Epstein: Hier wurden Reformen im Bildungssystem vorangetrieben.
Einfluss des „Roten Wiens“
Das „Rote Wien“ war bekannt für seine sozialen Reformen und seine Förderung der Volksbildung. Diese politische und soziale Umgebung bot dem Wiener Kreis eine Plattform, um ihre Ideen zu diskutieren und zu verbreiten. Trotz der politischen Turbulenzen in der Zwischenkriegszeit konnte der Kreis seine Arbeit fortsetzen, bis die politischen Umstände dies unmöglich machten.
Die dunklen Zeiten und das Erbe
Trotz ihrer bahnbrechenden Ideen und ihrer Beiträge zur Wissenschaft wurden die Mitglieder des Wiener Kreises von den politischen Entwicklungen in den 1930er Jahren stark betroffen. Reaktionäre und antisemitische Strömungen machten die Universität zu einem unsicheren Ort. Der Mord an Moritz Schlick im Jahr 1936 war ein tragischer Höhepunkt dieser Entwicklungen. Mit dem Anschluss Österreichs 1938 wurde die Wissenschaftskultur des Wiener Kreises zerstört, und viele Mitglieder mussten ins Exil gehen.
Renaissance und Wiederbelebung
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer kurzen Renaissance des Wiener Kreises, insbesondere durch die Arbeit von Viktor Kraft. Seit den 1990er Jahren hat das Institut Wiener Kreis an der Universität Wien die Ideen und das Erbe des Kreises wiederbelebt und institutionalisiert.
Die Ausstellung: Ein interaktiver Einblick
Die Ausstellung bietet eine interaktive Darstellung der Orte des Wiener Kreises in Wien. Neun Stationen zeigen die Topologie dieser historischen Bewegung und ihre Bedeutung im sozialen, kulturellen und politischen Kontext Wiens. Ein großer Stadtplan visualisiert die geografische Verteilung der Treffpunkte, die für den Wiener Kreis von Bedeutung waren.
Ein Blick in die Zukunft
Die Ausstellung und die begleitende Publikation sollen nicht nur die Geschichte des Wiener Kreises lebendig halten, sondern auch das Bewusstsein für die Bedeutung von Wissenschaft und Bildung in der modernen Gesellschaft stärken. Wie Kurator Friedrich Stadler betont: „Der weltberühmte philosophische Zirkel um Moritz Schlick konnte nur im kreativen urbanen Umfeld des ‚Roten Wien‘ entstehen.“ Diese Aussage unterstreicht die Bedeutung einer offenen und fördernden Umgebung für den wissenschaftlichen Fortschritt.
Eintritt und weitere Informationen
Die Ausstellung ist bis zum 19. September in der Wienbibliothek im Rathaus zu sehen. Der Eintritt ist frei, und die Öffnungszeiten sind Montag bis Donnerstag von 9:00 bis 19:00 Uhr und Freitag von 9:00 bis 17:00 Uhr. Weitere Informationen zur Ausstellung und zur begleitenden Publikation finden Sie hier.
Fazit
Die Ausstellung „Wien und die Wissenschaftliche Weltauffassung. Orte des Wiener Kreises“ ist ein Muss für alle, die sich für die Geschichte der Philosophie und die Entwicklung der Wissenschaft interessieren. Sie bietet nicht nur einen Einblick in die Vergangenheit, sondern regt auch zum Nachdenken über die Zukunft an. Die Wienbibliothek im Rathaus hat mit dieser Ausstellung einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung und Förderung des Wissens für alle geleistet.