Bonn/Berlin – Die Faszination, die bis auf den heutigen Tag von Robert Owen ausgeht, ist in der Ambivalenz seines Lebenswerkes begründet. In der öffentlichen Wahrnehmung steht einer der erfolgreichsten Unternehmer der Frühindustrialisierung, der mit seiner Kombination aus technologischer Innovation und betriebsnaher Sozialpolitik in New Lanark (Schottland) die Bewunderung der ganzen Welt erregte, dem Utopisten gegenüber, der mit seinem Sozialexperiment in New Harmony in den USA scheiterte. Hatte Owen eine gespaltene Identität herausgebildet, deren Teile sich kontradiktorisch gegenüberstanden? Oder gibt es eine gemeinsame Schnittmenge zwischen diesen beiden entscheidenden Phasen seiner Biographie? Und vor allem: Muss das ende von New Harmony als Bankrotterklärung des utopischen Denkens insgesamt bewertet werden? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, sich in der gebotenen Kürze seinem Wirken sowohl in New Lanark als auch in New Harmony zuzuwenden.

Sozialpolitische Innovation – Humanistisches Ideal

Ohne Zweifel stellte die Zeit zwischen 1800 und 1824 Owens erfolgreichsten Lebensabschnitt dar. In dieser Periode seines Lebens zeigte er der Welt, dass die erzielung hoher Gewinne mit einer nachhaltigen betriebsnahen Sozialpolitik kein Widerspruch sein muss, sondern im Gegenteil sich gegenseitig bedingen können. Als er 1799 mit seinen Teilhabern die „New Lanark Twist Company“ in Schottland aufkaufte, fand er ein heruntergekommenes Industriedorf vor. Dessen Bevölkerung, aus der sich die Arbeiter der Textilfabrik rekrutierten, bestand aus deklassierten Elementen und Landstreichern. Deren Arbeitsmotivation verschlechterte sich zusätzlich durch zu lange Arbeitszeiten, Frauen- und Kinderarbeit, Hungerlöhne und defizitäre Wohnungen.

Angesichts dieser desolaten Situation war Owen mit zwei Problemen konfrontiert. Er musste nicht nur die misstrauischen Arbeiter für eine produktive Kooperation gewinnen, sondern auch seine Mitgesellschafter davon überzeugen, dass ein Teil des Profits zur Lösung des sozialen Problems in New Lanark zu investieren sei. „Das Vorurteil der Arbeiter schwand, als Owen 1806 bei einer Krise wegen mangelnder Zufuhr von Baumwolle zwar den Betrieb einstellte, aber für vier Monate die Löhne zahlte. Größere Schwierigkeiten bereiteten die Teilhaber, die er mehrfach wechselte, bis er schließlich Gesellschafter fand, die sich mit einer Verzinsung des Kapitals von 5 % (nebst einer Risikoprämie) einverstanden erklärten; die darüber hinausgehenden Überschüsse wurden zum Wohle der Arbeiter eingesetzt“ (Jenkins).

Erst jetzt waren die zentralen Voraussetzungen für Owens Reformprojekt im engeren Sinne gegeben. Es setzte sich aus zwei Elementen zusammen. Einerseits war er zu diesem Zeitpunkt davon überzeugt, dass sowohl die moderne Technik als auch die Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise, die er sehr genau kannte, für seine Pläne zu nutzen seien. Nicht zufällig avancierte der Name Robert Owens zum „Gütezeichen für Baumwolle“ (Weppert). Im Hintergrund stand für ihn die Überzeugung, dass der „Widerspruch“ zwischen Kapital und Arbeit dann überwunden werden könne, wenn ein angemessener Teil des auf höchstem technischen Niveau erwirtschafteten Profits an die Arbeiter abfließen würde. Andererseits war ihm aber ebenso klar, dass die Vorteile der modernen Industrialisierung mit ihrer Arbeitsteilung allein nicht ausreichten, um seine Ziele zu erreichen: Gemäß seiner Milieutheorie musste er innerbetriebliche Verhältnisse schaffen, die das Bewusstsein der abhängige Beschäftigten grundlegend verändern sollten.

Beide Aspekte seines Ansatzes wurden von der Textilfabrik in New Lanark unter Owens Leitung glänzend realisiert. Der Betrieb warf dadurch hohe Gewinne ab, dass innovative Rationalisierungen des Produktionsablaufs einhergingen mit einer enormen Steigerung der Arbeitsmotivation der Beschäftigten. Erreicht wurde sie durch die Abschaffung der Arbeit von Kindern unter zehn Jahren, die gleichzeitige Einrichtung eines modernen Schulsystems auf Betriebskosten, die Reduktion der Arbeitszeit auf 10,5 Stunden, die nachhaltige Verbesserung der Wohnungssituation der Arbeiter, die Erhöhung der Löhne sowie die Einrichtung einer betrieblichen Altersversorgung sowie einer Arbeits- und Gesundheitsversicherung. Ferner entschuldete Owen die Arbeiter und führte ein Distributionssystem auf der Basis von Einkauf im Großen, Barzahlung und Kostenpreis ein: Owen wurde damit zu einem Pionier der Konsumgenossenschaften. So gesehen, muss sein Wirken als ein früher Beleg dafür angesehen werden, dass soziale Sicherheit nicht die Arbeitsmotivation zerstört, sondern sie überhaupt erst ermöglicht.

Die Quelle dieser sozialpolitischen Innovationen aber war der behavioristische Erziehungsgedanke, den Owen freilich in eine humanistische Richtung weiter zu entwickelte suchte: Nicht durch Strafen wollte er die moralischen Defizite der Arbeiter bekämpfen, „sondern durch die Änderung ihrer Daseinsbedingungen, die seiner Grundanschauung gemäß, bestimmend für die Entfaltung menschlicher Besonderheiten sind: der Trunksucht wirkte er entgegen, indem er den Verkauf von Spirituosen regelte; das Persönlichkeitsbewusstsein seiner Arbeiter suchte er zu wecken durch den sogenannten ‚stummen Monitor’, eine an den Arbeitsstätten angebrachte Tafel, auf der die Führung jedes einzelnen durch eine besondere Farbe gekennzeichnet war; immerdar war er darauf bedacht, im Arbeiter die menschliche Würde zu achten, immer bereit, Verfehlungen zu vergeben“ (Muckle). Die Resonanz dieses Erfolges ließ nicht auf sich warten. Bis 1824 sollen jährlich bis zu 2000 Besucher eine Art Wallfahrt zu Owens Musterbetrieb in New Lanark unternommen haben, ganz davon abgesehen, dass Prinzen, Könige und Kaiser Owens Reformprojekt ihre Referenz erwiesen.

Vom philanthropischen Unternehmer zum utopischen Visionär

Hätte Owen sein Reformwerk in diesem Entwicklungsstadium sistiert und auf Dauer gestellt, so wäre die Inschrift auf dem Gedenkstein ein authentisches Signum seines Lebenswerkes gewesen, das ihm zu Ehren auf dem Kensal Green Friedhof in London errichtet worden ist: „Er begründete und organisierte Schulen. Er sicherte Frauen und Kinder die Arbeitszeitverkürzung in den Fabriken. (…) Er war einer der prominentesten Engländer, der die Menschen lehrte, einen höheren sozialen Status dadurch anzustreben, dass sie die Interessen von Kapital und Arbeit versöhnen. Er widmete sein Leben und ein großes Vermögen dem Ziel, seine Landsleute durch Erziehung, Selbstbewusstsein und moralische Würde zu verbessern. Sein Leben war geheiligt durch menschliche Zuneigung und edle Taten“. Zweifellos gilt das viktorianische Pathos dieses Nekrologs dem philanthropischen Unternehmer Owen: Er schreibt den Ruhm und die gesellschaftliche Anerkennung fort, die sich der sozial engagierte und wirtschaftlich außerordentlich erfolgreiche Fabrikherr Owen in seinem Musterbetrieb New Lanark in der Frühphase der Industriellen Revolution erwarb.

Doch bereits ab 1812 zeichnete sich ein deutlicher Paradigmenwechsel im Wirken Robert Owens ab. Er musste nämlich bald einsehen, dass seinem Plan, das Betriebsmuster des Textilunternehmens von New Lanark auf die britische Gesamtgesellschaft zu übertragen, Grenzen gesetzt waren: Seine Versuche, über das englische Parlament eine Systemveränderung herbeizuführen, scheiterten. Die Folgen der zunehmenden Radikalisierung seiner Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem bekam er bald zu spüren. Friedrich Engels hat sie auf eine prägnante Formel gebracht: „Er war der populärste Mann in Europa. Nicht nur seine Standesgenossen, auch Staatsmänner und Fürsten hörten ihm beifällig zu. Als er aber mit seinen kommunistischen Theorien hervortrat, wendete sich das Blatt. Drei große Hindernisse waren es, die ihm vor allem den Weg zur gesellschaftlichen Reform zu versperren schien: das Privateigentum, die Religion und die gegenwärtige Form der Ehe. Er wusste, was ihm bevorstand, wenn er sie angriff: die allgemeine Ächtung durch die offizielle Gesellschaft, der Verlust seiner ganzen gesellschaftlichen Stellung“.

In der nun beginnenden kommunitaristischen Phase seines Lebens, in der er sich vom philanthropischen Unternehmer zum utopischen Visionär gewandelt hatte, ragt neben seinen Ideen der Produktiv- und Konsumgenossenschaften und seinem Projekt der Arbeiterbörsen vor allem die Gründung der utopischen Kommune New Harmonie in dem amerikanischen Bundesstaat Indiana hervor. Das Territorium von 30.000 Morgen erwarb Owen von dem württembergischen Sektierer Rapp für 150.000 Dollar. Auf den ersten Blick „hatte die Gemeinde von New-Harmony, verglichen mit anderen ähnlichen Versuchen, die meisten Aussichten auf Erfolg. An ihrer Spitze stand ein erfahrener Leiter, der in New Lanark seine einzigartige organisatorische Begabung glänzend bewiesen hatte. Auf die Einrichtung der Gemeinde wurde ein großes Vermögen – ungefähr eine Million Mark – aufgewandt. Auch war die Gemeinde nicht gezwungen, alles für das Unternehmen nötige völlig neu zu schaffen, denn sie erbte von einer anderen, die eine volle wirtschaftliche Blüte erreicht hatte, eine wohleingerichtete Besitzung mit allen möglichen Bauten und Einrichtungen“ (Tugan-Baranowsky).

Doch das Unternehmen New Harmony scheiterte. Die Gründe sind in der Literatur oft genannt worden: Die nicht nach strengen Kriterien erfolgte Auswahl der Mitglieder von New Harmony; die daraus folgende soziale Heterogenität, welche sich durch die demokratische Willensbildung bis zur Selbstauflösung entfalten konnte; der viel zu frühe Übergang vom gemischten wirtschaftlichen zum rein kommunistischen Wirtschaftssystem; die lange Abwesenheit Owens, der den Integrationsbedarf der Kommune erstaunlich falsch einschätzte; das Fehlen einer entscheidenden Prämisse seine utopischen Ansatzes, nämlich an der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu marschieren und vor allem die Nicht-Existenz eines „Neuen Menschen“, ohne den ein utopische Gemeinwesen nicht existieren kann. Auf diesen zuletzt genannten Tatbestand scheint Owen verwiesen zu haben, als er nach dem Scheitern des Projekts zugab, „dass die Familien, die in dem auf Aberglauben gegründeten individualistischen System aufgezogen sind, nicht die sittlichen Eigenschaften der Geduld und Nächstenliebe für die andern haben, die notwendig sind, um volles Vertrauen und volle Harmonie unter allen Mitgliedern herzustellen, ohne die eine Gemeinschaft nicht bestehen kann. Damit eine Gemeinschaft ständig blüht, muss sie aus Personen bestehen, die keine Vorurteile haben, sondern von sittlichen Gefühlen beseelt werden, die im Einklang mit den Gesetzen der menschlichen Natur stehen“.

Ein Bruch in der Biographie?

Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück. Klafft tatsächlich ein tiefer Abgrund zwischen dem erfolgreichen sozialreformerischen Unternehmer Owen und dem gescheiterten Utopisten? Und ist der Zusammenbruch von New Harmony der empirische Beweis dafür, dass das utopische Denken auf einer falschen anthropologischen Prämisse beruht und daher notwendig zum Scheitern verurteilt ist?

Die vorangegangenen Ausführungen konnten zeigen, dass sich die soziale Motivation wie ein roter Faden durch alle Lebensphasen Robert Owens zog. Insofern kann von einem Bruch seiner Biographie nicht die Rede sein. Was sich freilich änderte, waren die Wege zu seinem großen Ziel der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Es geht auch nicht an, den Sozialreformer gegen den Utopisten Owen auszuspielen. Wie soll der Reformer wissen, was innerhalb eines bestimmten Systems möglich ist, wenn er nicht vorausgreifend dieses transzendiert? Ohne dieses Wissen, das einen alternativen Gesellschaftsentwurf voraussetzt, sind die Dimensionen des Machbaren in einer gegebenen historisch-gesellschaftlichen Situation nicht auslotbar.

Klar ist auch, dass sich das Experiment von New Harmony weder für eine Falsifikation noch für eine Verifikation des utopischen Entwurfs eignet. Nehmen wir seine Schrift „New Moral World“ als das definitive Modell seiner utopischen Gesellschaft, so waren die in diesem Text entwickelten Bedingungen einer erfolgreichen Umsetzung in der Ausgangslage von New Harmony nicht erkennbar. Dass aber Owen sowohl als Unternehmer wie als Utopist indirekt die Entwicklung des modernen Sozialstaates und der Gewerkschaftsbewegung unter kapitalistischen Bedingungen wie kaum ein jemand vor ihm beeinflusst hat, steht gleichfalls außer Frage.

Professor emeritus Richard Saage, geb. 1941 in Tülau-Fahrenhorst, ist seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls “Politische Theorie und Ideengeschichte” am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zunächst Ausbildung als Chemo-Techniker, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Soziologie. Tätig an der Universität Göttingen. 1972 Promotion, 1980 Habilitation. Stipendien der Deutschen Studienstiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Unter anderem ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter “Utopieforschung – Eine Bilanz” sowie “Vermessungen des Nirgendwo – Begriffe, Wirkungsgeschichte und Lernprozesse der neuzeitlichen Utopien”.

Den Aufsatz von Herrn Professor Saage haben wir der Frühjahrsausgabe der Zeitschrift NeueNachricht http://www.neue-nachricht.de entnommen.

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